Interpretation: Gedichte

1. Beispiel: Die zwei Gesellen
2. Beispiel: Gedichtvergleich
3. Beispiel: Gedichtvergleich
4. Beispiel: Psalm (Paul Celan)
5. Beispiel: Die zwei Gesellen (2012)
6. Beispiel: Wilder Rosenbusch (R. M. Rilke)
7. Beispiel: Psalm (Georg Trakl)
8. Beispiel: Die Kraniche des Ibykus (Schiller)


1. Beispiel: Die zwei Gesellen

(Interpretation)


Aufgabe:

Interpretieren Sie das Gedicht Die zwei Gesellen (erschienen 1818) von Joseph von Eichendorff! Halten Sie sich dabei an die im Unterricht besprochene und geübte Form der Gedichtinterpretation. Die Arbeitszeit beträgt 135 Minuten (10:25-12:40 Uhr). Viel Erfolg!

Viel Erfolg!

Die zwei Gesellen


Es zogen zwei rüst'ge Gesellen
Zum ersten Mal von Haus,
So jubelnd recht in die hellen,
Klingenden, singenden Wellen
Des vollen Frühlings hinaus.


Die strebten nach hohen Dingen,
Die wollten, trotz Lust und Schmerz,
Was Rechts in der Welt vollbringen,
Und wem sie vorüber gingen,
Dem lachten Sinnen und Herz. -


Der erste, der fand ein Liebchen,
Die Schwieger kauft' Hof und Haus;
Der wiegte gar bald ein Bübchen,
Und sah aus heimlichem Stübchen
Behaglich ins Feld hinaus.


Dem zweiten sangen und logen
Die tausend Stimmen im Grund,
Verlockend' Sirenen, und zogen
Ihn in der buhlenden Wogen
Farbig klingenden Schlund.


Und wie er auftaucht' vom Schlunde,
Da war er müde und alt,
Sein Schifflein das lag im Grunde,
So still war's rings in die Runde,
Und über die Wasser weht's kalt.


Es singen und klingen die Wellen
Des Frühlings wohl über mir;
Und seh ich so kecke Gesellen,
Die Tränen im Auge mir schwellen -
Ach Gott, führ uns liebreich zu dir!

[Eichendorff: Gedichte [Ausgabe 1841], S. 92 ff. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 22289 (vgl. Eichendorff-W Bd. 1, S. 90 ff.)]


Erwartungshorizont

Die Schüler sollten eine Gliederung und eine Ausführung zum gestellten Thema abliefern.


Mustergliederung:

  1. Romantische Lebensentwürfe
  2. Eichendorffs Lied Die zwei Gesellen
    1. Zwei Menschen – zwei Schicksale
    2. Ein Lied in sechs Strophen
    3. Romantische Motive
    4. Sprache und Stil
    5. Interpretierender Vergleich mit der Biographie Eichendorffs
  3. Die zwei Gesellen – Brüder des Taugenichts?

Zur Ausführung

In der Einleitung könnte auf das romantische Motiv des Fernwehs, der Sehnsucht, der Wanderung eingegangen werden, die als Bild für das Leben überhaupt gelten.

In der Inhaltsangabe müssten die zwei Schicksale der Gesellen nebeneinander dargestellt werden: Der eine verliert sich in der eigenen Familie (Str. 3), der andere im Sinnenrausch, bis er allein ist (Str. 4+5). Beide waren voller Hoffnung und Tatendrang losgezogen und wurden enttäuscht. Das lyrische Ich (Str. 6) wird dadurch traurig und vertraut sich Gottes Führung an.

Das Lied besteht aus 6 Strophen zu je 5 Zeilen mit dem Reimschema ababba. Der Daktylus beherrscht den tänzelnden Rhythmus. Die Verben klingen und singen und die Erwähnung der Sirenen deuten auf die Liedhaftigkeit hin, die typisch für den romantischen Stil dieser Zeit ist.

Romantische Motive sind der Aufbruch in die weite Welt, in dem sich Sehnsucht, Fernweh und Hoffnung auf große Taten spiegeln. Dem korrespondieren der Frühling als Jahreszeit des Aufbruchs und das Bild vom Meer (Wellen, Schifflein) als unendliche Möglichkeit. Sehen (Haus, Hof, Str. 6), Fühlen (Frühling) und Hören (singen und klingen) deuten die Vermischung verschiedener Sinne an. Die Synästhesie „Farbig klingend“ (Z. 21) fällt auf. Der Aufbruch kommt jedoch in der Realität zum Stillstand: In Str. 3 wird aus dem Heim aufs Feld hinausgeschaut, in Str. 5 wirkt die Runde kalt und still.

Die Sprache ist nur scheinbar einfach. Die Inversion (Z. 2) und die Auslassung unbetonter Silben (Z. 2, 9, 13) sollen volkstümlich wirken. Jedoch sind der Satzbau und die Grammatik anspruchsvoller: Dativkonstruktionen (Z. 10f., 17), vorangestelltes Genitivattribut (Z. 20f.). Der Wortschatz ist heute gelegentlich erklärungsbedürftig (Schwieger, Z. 13: Schwiegereltern; heimlich, Z. 15: heimelig, nicht verborgen!, buhlend, Z. 20: erotisch verführerisch).

Eichendorff selbst lebte weder nach dem einen noch nach dem anderen Entwurf. Beruflich unerfüllt, privat eventuell unglücklich, sah er wenig von der großen, weiten Welt. Möglicherweise dankte er mit diesem Gedicht Gottes Fügung und gab sich mit dem zufrieden, was er tatsächlich erreichte. Sehnsüchte führen oft nicht an ein realistisches Ziel (biedere Kleinbürgerfamilie vs. Bohemien)

In Eichendorffs Erzählung Aus dem Leben eines Taugenichts zieht ein Geselle ohne besonderes Ziel hinaus in die Welt und findet nach einigen Verwirrungen doch sein Glück. Die Moral von der Geschicht' könnte sein, dass man seine Ziele nicht zu hoch stecken und sich im Vertrauen auf Gottes Fügung mit dem Erreichten zufrieden geben sollte.


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2. Beispiel: Gedichtvergleich

Aufgabe

Interpretieren Sie, von Ihrem Gesamteindruck ausgehend, die beiden Gedichte und berücksichtigen Sie dabei insbesondere die poetischen Gestaltungsmittel.

Viel Erfolg!


Joseph von Eichendorff (1788-1857)

Treue (1830)

  
  Wenn schon alle Vögel schweigen
  In des Sommers schwülem Drang,
  Sieht man, Lerche, dich noch steigen
  Himmelwärts mit frischem Klang.
    
  Wenn die Bäume all verzagen
  Und die Farben rings verblühn,
  Tannbau, deine Kronen ragen
  Aus der Öde ewiggrün.
  
  Darum halt' nur fest die Treue,
  Wird die Welt auch alt und bang,
  Brich den Frühling an aufs Neue,
  Wunder tut ein rechter Klang!
  
  

Günter Eich (1907-1972)

An die Lerche (1948)

  
  Da schon das Gras zu Staub zertreten ist,
  die Wüste unter unsern Füßen wächst,
  da schon die Apfelbäume, die entrindeten,
  zweiglos wie gelb gebleichte Baumskelette
  geschändet stehen: Ach, da fliehen uns
  die bunten Vögel. Keine Kehle sänge
  den Mai uns vor, den schallenden von Liedern,
  bliebst du nicht, Lerche; Vogel der Gefangnen.
    
  Du graues Wesen, wie dein einfach Lied
  hoch über unsern Häuptern jubiliert,
  als wär der steinern trockne Lehm ein Kornfeld,
  als wären wir nicht dürr und unfruchtbar,
  als solle Saat und Halm aus uns entsprießen
  und unser Los gediehe noch zur Ähre.
  Oh sing uns keinen falschen Schlummertrost,
  sei uns Prophet und sing die kalte Zukunft,
  die jubelnde!
  
  

Erwartungshorizont

Eichendorff

Eich

Inhalt

Naturvergänglichkeit im Herbst ermöglicht einen neuen Frühling: Es wird weitergehen.

Hoffnung auf eine Zukunft trotz der Vergänglichkeit der Natur im Herbst

Form

Lied; 3 Strophen zu je 4 Zeilen, Reim abab, vierhebige Trochäen

Hymne an die Lerche; 2 Strophen zu je 8 Zeilen, reimlos, fünfhebige Jamben

Epochenzugehörigkeit

Romantik im Übergang von Jahreszeit zur menschlichen Treue und im Wunderbegriff

Illusionsloser Realismus der Moderne, Todesahnung (Staub, gebleichtes Skelett, usw.)

Interpretation

Wenn auch die Natur vergeht, kann der Mensch durch Treue das Wunder der Unvergänglichkeit vollbringen. Imperativ und Indikativ schaffen Zutrauen auf die Zukunft.

Vor der schicksalhaften Umweltzerstörung fliehen uns die Vögel. Nur die Lerche sing weiter, als ob (Konjunktiv!) nichts geschehen wäre. Das lyrische Ich wünscht sich, dass dieses Zukunftslied keine Täuschung sei.

Gesamteindruck

Der Romantiker hat ein optimistisches Zukunftsbild.

Der moderne Mensch schaut skeptisch auf die Zukunft.


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3. Beispiel: Gedichtvergleich

Johann Wolfgang von Goethe und die Frauen
(Interpretation)


Aufgabe:

Interpretieren Sie die beiden Gedichte nach Inhalt und Form. Stellen Sie die beiden Texte in Bezug zu den Erfahrungen, die der Dichter in Weimar machte! Diskutieren Sie, ob sich der Einfluss der beiden Frauen in den abgedruckten Texten spiegelt. Die Arbeitszeit beträgt 180 Minuten.

Viel Erfolg!

An Charlotte von Stein

 

Woher sind wir geboren?
Aus Lieb.
Wie wären wir verloren?
Ohn Lieb.
Was hilft uns überwinden?
Die Lieb.
Kann man auch Liebe finden?
Durch Lieb.
Was lässt nicht lange weinen?
Die Lieb.
Was soll uns stets vereinen?
Die Lieb.


Frau von Stein


Christiane Vulpius

Gefunden


Ich ging im Walde
So für mich hin,
Und nichts zu suchen,
Das war mein Sinn.

Im Schatten sah ich
Ein Blümchen stehn,
Wie Sterne leuchtend,
Wie Äuglein schön.

Ich wollt es brechen,
Da sagt' es fein:
Soll ich zum Welken
Gebrochen sein?

Ich grubs mit allen
Den Würzlein aus,
Zum Garten trug ichs
Am hübschen Haus.

Und pflanzt es wieder
Am stillen Ort;
Nun zweigt es immer
Und blüht so fort.


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4. Beispiel: Psalm (Paul Celan)


Aufgabe:

  1. Erschließen und interpretieren Sie das Gedicht „Psalm” von Paul Celan (Bürgerlicher Name: Paul Antschel, geboren 23. November 1920 in Czernowitz /Bukowina, gestorben 20.April/1.Mai 1970 in Paris/Frankreich). Erarbeiten Sie insbesondere das zugrunde liegende Menschenbild und berücksichtigen Sie daneben die beigefügte Definition der Gedichtart „Psalm”.
  2. Zeigen Sie, ausgehend von Ihren Ergebnissen, anhand von Celans „Todesfuge” verglei­chend auf, wie sich das persönliche Schicksal des Autors in diesen Werken spiegelt.

Viel Erfolg!

Psalm

(aus: Die Niemandsrose, Gedichte, 1963, bzw. Celan wiederlesen, Gedichte, 1998)


Niemand knetet uns wieder aus Erde und Lehm,
niemand bespricht unsern Staub.
Niemand.


Gelobt seist du, Niemand.
Dir zulieb wollen
wir blühn.
Dir
entgegen.


Ein Nichts
waren wir, sind wir, werden
wir bleiben, blühend:
die Nichts-, die
Niemandsrose.


Mit
dem Griffel seelenhell,
dem Staubfaden himmelswüst,
der Krone rot
vom Purpurwort, das wir sangen
über, o über
dem Dorn.

Der Psalm,

eine (biblische) Sonderform der Hymne
griech. hymnos = Gesang, Lied
Preislied auf Götter, Helden, Herrscher; in der Neuzeit auch zur Verherrlichung von Tugenden, Freundschaft, Natur, Gefühl, Freiheit, Menschheit, Vaterland (Nationalhymnen); seit dem 18.Jh. meist in freien Rhythmen.

Fundstellen im Internet:
http://www.lyrikwelt.de/gedichte/celang1.htm
http://www.uni-due.de/~gev020/courses/course-stuff/lit-bach-galle-psalmendichtung09celan.htm
http://www.litde.com/beispiele-der-texthermeneutik/fragendes-verstehen-zu-paul-celans-gedicht-psalm.php
Original-Lesung Celans: http://netzzwerk.tumblr.com/post/7728894571/paul-celan-psalm


Erwartungshorizont

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5. Beispiel: Die zwei Gesellen (2012)


Aufgabe:

  1. Erschließen und interpretieren Sie das Gedicht „Die zwei Gesellen” (1818, Text A, s. oben, Beispiel 1) von Joseph von Eichendorff (1788-1857) nach Inhalt und Form. Gehen Sie dabei unter anderem auf die sprachliche Gestaltung und Eichendorffs Menschenbild ein.
  2. Stellen Sie dar, inwieweit Eichendorffs Biographie sich in Text B (aus „Dichter und ihre Gesellen”) sowie in Text A spiegelt.
  3. Vergleichen Sie das Hauptmotiv von Text A mit einem anderen, motivverwandten Text der deutschen Literatur!

Viel Erfolg!


Text A: Joseph von Eichendorff: Die zwei Gesellen

Text B: Text B: Aus „Dichter und ihre Gesellen”

Eichendorffs Doppelbiografie als Künstler und Staatsdiener spiegelt sich z. B. in seinem Roman „Dichter und ihre Gesellen”. Dort fragt Fortunat seinen Freund aus Jugendjahren:

„[...] Aber in welchem gräulichen Rumor lebt ihr Beamte dabei! Keiner hat Zeit zu lesen, zu denken, zu beten. Das nennt man Pflichttreue; als hätte der Mensch nicht auch die höhere Pflicht, sich auf Erden auszumausern und die schäbigen Flügel zu putzen zum letzten, großen Fluge nach dem Himmelreich, das eben auch nicht wie ein Wirtshaus an der breiten Landstraße liegt, sondern treu und ernstlich und mit ganzer, ungeteilter Seele erstürmt sein will. Ja, ich habe oft nachgedacht über den Grund dieser zärtlichen Liebe so vieler zum Staatsdienst. Hunger ist es nicht immer, noch seltener Durst nach Nützlichkeit. Ich fürchte, es ist bei den meisten der Reiz der Bequemlichkeit, ohne Ideen und sonderliche Anstrengung gewaltig und mit großem Spektakel zu arbeiten, die Satisfaktion, fast alle Stunden etwas Rundes fertig zu machen, während die Kunst und die Wissenschaften auf Erden niemals fertig werden, ja in alle Ewigkeit kein Ende absehen.« »Da rührst du«, entgegnete Walter, »an den wunden Fleck, wenigstens bei mir. Dass ich, aus Mangel an Zeit, zu beiden Seiten die schönen Fernen und Tiefen, die uns sonst so wunderbar anzogen, liegen lassen muss, das ist es, was mich oft heimlich kränkt, und was ich hier nicht einmal einem Freunde klagen kann. Dazu kommt die Abgelegenheit des kleinen Orts, wo alle Gelegenheit und aller Reiz fehlt, der neuesten Literatur zu folgen.”


Erwartungshorizont

  1. Einleitung: Z.B. Romantik, Eichendorff
  2. Erschließung und Interpretation des Gedichts „Die zwei Gesellen” von Joseph von Eichendorff
  3. Synonyme für „Geselle”: (junger) Mensch, Wanderer, (Handwerks-)Bursche, Mann,
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6. Beispiel: Wilder Rosenbusch (R. M. Rilke)


Aufgabe:

  1. Interpretieren Sie das Gedicht „Wilder Rosenbusch“ (1924) von Rainer Maria Rilke (Text 1)! Zie­hen Sie dabei unter anderem einen Vergleich mit einem anderen Gedicht dieser literarischen Strö­mung!
  2. Gehen Sie, ausgehend von Ihren Erkenntnissen in (a) der Frage nach, ob Hermann Bahr in sei­nem Aufsatz „Symbolismus” (Text 2) Grundlagen zum Verständnis von Rilkes Gedicht gelegt hat.


Text 1:

Wilder Rosenbusch


Wie steht er da vor den Verdunkelungen
des Regenabends, jung und rein;
in seinen Ranken schenkend ausgeschwungen
und doch versunken in sein Rose-sein;


die flachen Blüten, da und dort schon offen,
jegliche ungewollt und ungepflegt:
so, von sich selbst unendlich übertroffen
und unbeschreiblich aus sich selbst erregt,


ruft er den Wandrer, der in abendlicher
Nachdenklichkeit den Weg vorüberkommt:
Oh sieh mich stehn, sieh her, was bin ich sicher
und unbeschützt und habe was mir frommt.


Biografische Angaben

Rainer Maria Rilke (* 4. Dezember 1875 in Prag, Österreich-Ungarn; + 29. Dezember 1926 im Sanatorium Valmont bei Montreux, Schweiz) war einer der bedeutendsten Lyriker deutscher Spra­che. Daneben verfasste er Erzählungen, einen Roman und Aufsätze zur Kunst und Kultur sowie zahlreiche Übersetzungen von Literatur und Lyrik unter anderem aus der französischen Sprache. Sein umfangreicher Briefwechsel bildet einen wichtigen Bestandteil seines literarischen Schaffens.


Text 2:

Hermann Bahr (1863 – 1934): Symbolismus.

Die Kunst will jetzt aus dem Naturalismus fort und sucht Neues. Niemand weiß noch, was es wer­den möchte; der Drang ist ungestalt und wirr; er tastet ohne Rath nach vielen Dingen und findet sich nirgends. Nur fort, um jeden Preis fort aus der deutlichen Wirklichkeit, ins Dunkle, Fremde und Versteckte – das ist heute die eingestandene Losung für zahlreiche Künstler.

Man hat manchen Namen. Die Einen nennen es <Decadence>, als ob es die letzte Flucht der Wün­sche aus einer sterbenden Kultur und das Gefühl des Todes wäre. Die Anderen nennen es Symbo­lismus. Das hat in Vielen eine schlimme Verwirrung angerichtet. Sie reden, ohne die Sache zu ken­nen, aus dem bloßen Worte heraus, das ihnen einen schwanken und falschen Begriff gibt.

Es ist an der Zeit, deutlich und wirksam zu erklären, daß der neue Symbolismus von heute und der überlieferte Symbolismus von einst nichts mit einander zu schaffen haben. Sie brauchen beide Symbole; das ist ihnen gemein. Aber gerade in der Verwendung der Symbole, woher sie sie neh­men und wohin sie mit ihnen trachten, trennen und entfremden sie sich gleich wieder.

[...]

Der neue Symbolismus braucht die Symbole ganz anders. Er will auch ins Unsinnliche, aber er will es durch ein anderes Mittel. Er schickt nicht dürftige Boten aus, von seinen unsinnlichen Freuden zu stammeln, bis ihre Ahnungen erwachen. Sondern er will die Nerven in jene Stimmungen zwin­gen, wo sie von selber nach dem Unsinnlichen greifen, und will das durch sinnliche Mittel. Und er verwendet die Symbole als Stellvertreter und Zeichen nicht des Unsinnlichen, sondern von ande­ren ebenso sinnlichen Dingen.

Das Symbol gilt dem neuen Symbolismus sehr viel, aber es gilt ihm nur als eine Bereicherung des Handwerks. Er hat aus den Symbolen eine neue Technik gewonnen, ein vorher unbekanntes, lyri­sches Verfahren, eine besondere Methode der Lyrik. Es gab vor ihm das rhetorische und das realis­tische Verfahren; er hat ein Neues geschaffen.

Die Absicht aller Lyrik ist immer die gleiche: Ein Gefühl, eine Stimmung, ein Zustand des Gemüthes soll ausgedrückt und mitgetheilt, soll suggerirt werden. Was kann der Künstler thun? Das nächste ist wohl, es zu verkünden, sein inneres Schicksal zu erzählen, zu beschreiben, was und wie er es empfindet, in recht nahen und ansteckenden Worten. Das ist die rhetorische Technik. Oder der Künstler kann die Ursache, das äußere Ereigniß seiner Stimmung, seines Gefühls, seines Zustandes suchen, um, indem er sie mittheilt, auch ihre Folge, seinen Zustand mitzutheilen. Das ist die realis­tische Technik. Und endlich, was früher noch Keiner versucht hat: der Künstler kann eine ganz an­dere Ursache, ein anderes äußeres Ereigniß finden, welche seinem Zustande ganz fremd sind, aber welche das nämliche Gefühl, die nämliche Stimmung erwecken und den nämlichen Erfolg im Ge­müthe bewirken würden. Das ist die Technik der Symbolisten.

Hermann Bahr: Symbolismus. In: Die Nation. Wochenschrift für Politik, Volkswirthschaft und Litteratur. 9(1892)576-577. Im Internet: http://www.uni- due.de/lyriktheorie/texte/1892_2bahr.html, aufgerufen am 27.11.2012


Erwartungshorizont


Gliederungsbeispiel

A. Rainer Maria Rilke, ein Dichter des Symbolismus

B. Rilkes „Wilder Rosenbusch“

I. Ein wilder Rosenbusch am Abend

II. Symbolistische Sprache in drei Strophen

1. Formaler Aufbau

2. Bilder und Symbole

III. Fehlen des lyrischen Ichs im Dinggedicht

IV. Der Rosenbusch als Symbol des einsamen Menschen

V. Rilkes Panther im Vergleich mit dem Rosenbusch

VI. Hermann Bahrs Thesen als Grundlage zum Verständnis des Gedichts

C. Die Rose als Bild zeitloser Schönheit


Gedanken zur Ausführung:

Zu A.: Biografische Angaben verwenden

Zu B.: I. Inhaltsangabe

II. Sprache und Form

Zu C.: Schönheit des in sich ruhenden, selbstbewussten Menschen

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