Interpretation: Kurzprosa

1. Beispiel (Wolfgang Hildesheimer: Eine größere Anschaffung)
2. Beispiel (Theodor Storm: Der Schimmelreiter. Die Rahmenhandlung)


1. Beispiel

Aufgabe

Interpretieren Sie den Text „Eine größere Anschaffung” von Wolfgang Hildesheimer!

Wolfgang Hildesheimer wurde am 9. Dezember 1916 als Sohn jüdischer Eltern in Hamburg geboren und verlebte seine Kindheit in Hamburg, Berlin, Cleve, Njimegen und Mannheim. 1950 wurde er ziemlich unvermittelt zum Schriftsteller. Bereits Hildesheimers erste Kurzprosasammlung "Lieblose Legenden" (1952) war ein großer Erfolg.
1966 erhielt Hildesheimer den Georg-Büchner-Preis. Zu den weiteren Literaturpreisen gehören der Hörspielpreis der Kriegs­blinden (1954). Außerdem wurde er 1982 Ehrendoktor der Uni­versität Gießen. Bereits 1983 hatte der Hildesheimer, der Mit­glied der Gruppe 47 war, bewusst aufgehört, literarische Texte zu schreiben („Das Ende der Fiktionen und andere Reden”, 1984). Danach widmete er sich vorwiegend seinen Graphiken und Col­lagen. Am 21. August 1991 verstarb Wolfgang Hildesheimer in seiner Wahlheimat Poschiavo (Graubünden), die ihn inzwischen zum Schweizer Ehrenbürger ernannt hatte.


Erwartungshorizont / Mustergliederung

  1. Leben in der Konsumgesellschaft
  2. Eine größere Anschaffung
    1. Beispiele für irrationales Konsumverhalten [Inhaltsangabe]
    2. Eine kurze Geschichte zwischen absurder Parabel und Kurzgeschichte [Gattungsmerkmale]
    3. Der Erzähler als Identifikationsfigur des konsumorientierten Normalbürgers [Hauptfigur 1]
    4. Die Funktion des Vetters als Zeuge und Maßstab der scheinbar normalen Gesellschaft [Figur 2]
    5. Die sachliche Sprache des Berichts und die Täuschung über die Tatsachen [Sprachliche Merkmale]
    6. Hildesheimers Ahnung der Konsumgesellschaft zur Entstehungszeit 1952 [Zeitliche Einordnung]
  3. Aktualität der Kritik Hildesheimers an der „Festung Europa”

Häufige Formfehler:

Zum Inhalt:

Gattungsmerkmale:

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2. Beispiel: Theodor Storm: Der Schimmelreiter. Die Rahmenhandlung

Aufgabe:

Erschließen und interpretieren Sie den folgenden Textausschnitt. Erörtern Sie, ausgehend von Ihren Ergebnissen, ob es sich bei dem Text um ein Beispiel aus dem poetischen Realismus handelt.


Textgrundlage

Der Text der Novelle ist an mehreren Orten im Internet zu finden und wurde, mit Zeilenzählung versehen, in Kopie zur Verfügung gestellt. Die Textgrundlage geht vom Beginn bis zu der Stelle

»Nun freilich«, sagte der Alte, sich zu mir wendend, »will ich gern zu Willen sein; aber es ist viel Aberglaube dazwischen und eine Kunst, es ohne diesen zu erzählen.«
»Ich muß Euch bitten, den nicht auszulassen«, erwiderte ich; »traut mir nur zu, daß ich schon selbst die Spreu vom Weizen sondern werde!«

Fundstellen im Netz:

Projekt Gutenberg
WikiSource


Gliederung

  1. Aus einer Zeit, in der der Aberglaube die Menschen beherrschte
  2. Der erste Teil der Rahmenhandlung in Storms Schimmelreiter
    1. Eine komplizierte Rahmenstruktur als Hinführung zur Gespenster­geschichte
    2. Zur Funktion des Rahmens
    3. Storms meisterliche Erzählkunst
    4. Der Schulmeister als Garant der Wahrheit der Erzählung
    5. Der Einbruch des Irrationalen in die heile Welt
    6. Realistische Darstellung des harten Lebens am Meer
  3. Storm und sein Schimmelreiter – bis heute beliebte Schullektüre


Ausführung

Wir leben heute in einem aufgeklärten Zeitalter. Darauf ist man in unserer Gesellschaft meist sehr stolz. Und dennoch scheuen sich manche Menschen nicht, vor einem Hotelzimmer mit der Nummer 13 zurückzuschrecken, oder sie lesen ungeniert Horoskope und gehen schwarzen Katzen aus dem Weg. Der Aberglaube sitzt tief in uns drinnen, auch wenn wir uns das heute nur ungern eingestehen. In früheren Jahrhunderten war der Glaube an Geister und übernatürliche Vorgänge noch sehr viel stärker an der Oberfläche. Davon erzählen viele spannende Geschichten aller Völker der Erde. Auch in Deutschland glaubte man fest an die Existenz des Bösen, der Magischen, und das Lesepublikum der gebildeten Schickten genoss es geradezu, sich mit derlei Erzählungen spannend unterhalten zu lassen. Ein Meister dieser Art von Spannung ist sicherlich Theodor Storm, der 1888 mit seiner Novelle Der Schimmelreiter ein Musterbeispiel für die Gattung der unheimlichen Erzählung verfasst hat. Er beginnt seine Novelle jedoch nicht medias in res, sondern leitet den Leser behutsam über mehrere Stufen zum eigentlichen Kern seiner Geschichte hin.

Um die Binnenerzählung vom Schimmelreiter windet sich ein mehrteiliger Rahmen, dessen Inhalt und Aufbau auf den ersten Seiten der Novelle bereits den Leser gefangen nimmt. Der Ich-Erzähler, der gleich in der ersten Zeile des Textes genannt wird, erinnert sich an eine Geschichte, die er vor über 50 Jahren in einer nicht mehr genau bekannten Zeitschrift bei seiner Urgroßmutter gelesen hat. Darin berichtet ein anderer Erzähler von einem Ritt an einem stürmischen Oktobernachmittag, der ihn über einen nordfriesischen Deich führt. Inmitten des Unwetters hat er eine wahrhaft unheimliche Begegnung mit einem Reiter auf einem Schimmel. Als der Reisende schließlich ein Wirtshaus erreicht und von seinem Erlebnis berichtet, werden die Anwesenden aufmerksam und bewegen den betagten Schulmeister dazu, seinerseits die Geschichte von dem unheimlichen Reiter auf dem Schimmel zu erzählen.

Die Binnenerzählung wird also durch drei Ebenen von Erzählern vermittelt: Der Schulmeister gibt sie im Wirtshaus wieder. Dort hört sie der Reisende, der sie aufgeschrieben hat. Den Text wiederum findet der Erzähler der Novelle in einer Zeitschrift und er erinnert sich daran. Theodor Storm erzählt also nicht einfach selbst eine unheimliche Geschichte, sondern er legt sie stufenweise anderen in den Mund. Dadurch erreicht er, dass er scheinbar nicht selbst Autor der Novelle ist. Er zitiert andere, die sich für deren Wahrheit und Glaubhaftigkeit verbürgen. Zum Beispiel ist ein Text, der in einer Zeitschrift abgedruckt ist, schon allein dadurch überzeugender, dass er nicht einfach von einem Märchenonkel zum besten gegeben wird. Das Übernatürliche einer Gespenstergeschichte würde zu banal klingen, wenn es einfach so wiedergegeben würde. Aber durch die dreifache Einrahmung erhält es seinen Platz in der Realität der Welt. Die Rahmen haben also die Funktion, die Binnenerzählung umso glaubhafter wirken zu lassen.

Storms meisterliche Erzählkunst zeigt sich aber nicht nur in seinem Kunstgriff mit der Rahmung, sondern auch in der sprachlichen Gestaltung seiner Novelle. In den ersten elf Zeilen berichtet der erste Erzähler in der Ich-Form von der Geschichte, die er in einer alten Zeitschrift gelesen hat. Dieser Erzählerbericht ist sachlich und wirkt objektiv, wenngleich er seine Gefühle wie zum Beispiel den Schauer, den er bei der Berühung durch die liebkostende Hand der Urgroßmutter empfunden hat, genau wiedergibt. Durch die klare Sprache wirkt dieser Teil wie ein Bericht, der Fakten und Tatsachen enthält. Eingebettet in diesen Bericht ist die subjektiv gefärbte Erzählung des Reisenden, der während eines Unwetters auf dem Deich unterwegs ist. Die Verknüpfung zwischen beiden Erzählebenen bildet im ersten Satz des zweiten Absatzes die Katachrese „so begann der damalige Erzähler“ (Z. 12f.). Dieser stellt in erlebter Rede seine Situation dar: „Das Wetter dauerte jetzt in den dritten Tag, und ich hatte mich schon über Gebühr von einem mir besonders lieben Verwandten auf seinem Hof halten lassen“ (Z. 27f.) enthält sowohl Angaben über das Wetter, also das äußere Geschehen, als auch Gedanken, Bewertungen und Gefühle, die nur der Erzähler kennen kann. Die Wertung „über Gebühr“ (Z. 27) ist nicht sehr ernst gemeint, denn sie zeugt gleichzeitig von der Liebe seiner Verwandten zu dem Erzähler, die diesen nicht ziehen lassen wollten. Auch dass er bei „besonders lieben Verwandten“ verweilt hat, zeigt seine Empfindungsfähigkeit und seine innere Einstellung. Gerade dadurch, dass uns Storm diesen Erzähler als einen vernünftigen, im seelischen Gleichgewicht befindlichen Menschen vorstellt, wird dessen nachfolgendes Erlebnis umso glaubwürdiger. Die erlebte Rede erstreckt bis über die Begegnung mit dem Schimmelreiter, die durch Fragen wie „Wer war das? Was wollte der?“ (Z. 45) hinterfragt wird. Einen anderen Charakter nimmt die Erzählung an, als der Reiter endlich das Wirtshaus erreicht und dort gewissermaßen wieder in die Realität zurückkehrt. Ein Knecht knurrt ihm auf plattdeutsch „Is wull so wat“ (Z. 70) entgegen und die später einsetzende lebhafte Rede und Gegenrede lassen die Erzählung in eine Darstellung von epischer Breite münden, in der auch genaue Beschreibungen von Räumen (Z. 73-75) und Personen (Z. 96-100) Platz haben. Mit dem Bericht des Schulmeisters beginnt die eigentliche Binnenhandlung. Der Schulmeister selbst tritt als auktorialer Erzähler auf, denn er bewertet noch vor Beginn seiner Ausführungen die Geschichte, indem er sie „mit viel Aberglauben dazwischen“ (Z. 117f.) relativiert. Theodor Storm zeigt also bereits in der Rahmenerzählung, dass er alle Register der Erzählkunst beherrscht und verschiedene Perspektiven und Erzählweisen in angemessener Weise handhabt.

Der Schulmeister galt und gilt in ländlichen Gegenden als Vertreter der Intelligenz, mehr noch als Vertreter der Vernunft. Deshalb ist es nicht verwunderlich, dass der Deichgraf nicht selbst die Geschichte von seinem Vorgänger wiedergibt, sondern den Schulmeister bittet. Denn er „wird von uns hier Ihnen das am besten erzählen können“ (Z. 102). Ein Lehrer hat in der Regel eine pädagogische Hochschule besucht, hat zu diesem Zweck zeitweise in einer größeren Stadt gelebt und deshalb einen weiteren geistigen Horizont als die Landbevölkerung, die in früheren Jahrhunderten in der Regel kaum über das von ihr bestellte Gut hinaus kam. Der Alte weiß Realität und Aberglauben zu trennen. Aber gerade deshalb wird der Anteil des Irrationalen an seiner Geschichte umso tiefer unter die Haut gehen, als wenn Storm die Frau des Deichgrafen erzählen ließe, den „dummen Drachen“ (Z.105), wie sie der Lehrer anzüglich tituliert. Die Wahl des Schulmeisters mit seiner unbestrittenen Autorität hat Storm im Hinblick auf die Verbindlichkeit der Sage vom Schimmelreiter geschickt getroffen.

Von der Erzählung des Dorflehrers erfahren wir im ersten Teil des Rahmens wenig. Nur, dass die Geschichte bei der Bevölkerung bereits bekannt ist, was wiederum für ihren Wahrheitsgehalt spricht, und dass sie mit einer geisterhaften Erscheinung zu tun hat, die immer wenn eine Sturmflut droht, auftritt. Dass das Gespenst nicht nur eine Figur der Erzählung des Alten ist, weiß der fremde Reiter bereits aus eigener Erfahrung. Er war auf dem Weg von seiner Verwandtschaft, wo er unbeschwerte Tage genossen hat, als ihn das Unwetter ereilt. In dieser Situation bricht das Unheimliche in die scheinbar heile Welt ein. Sein Weltbild, das zunächst als vernünftig und im Gleichgewicht befindlich dargestellt wird, gerät durch die Begegnung mit der Erscheinung ins Wanken. Der Schimmelreiter, der bereits in der Rahmenhandlung für Furore sorgt, spielt auch in der Erzählung des Schulmeisters eine zentrale Rolle. Aus diesem Grund kann man ihn als Leitmotiv, als Dingsymbol bezeichnen, das alle entscheidenden Stellen des Textes dominiert. Die Erzählung selbst wird in einer Gemeinschaft wiedergegeben, die die Geschichte bereits kennt. Das Reizvolle daran ist also weniger die Neuigkeit, als vielmehr die Art der Darstellung, die der Erzähler meisterhaft beherrscht. Ferner ist auch die Moral der versammelten Gesellschaft unbestrittenes Gemeingut. Allen – dem Erzähler wie seinen Zuhörern – ist klar, was gut und was böse ist. Nur in einem solchen Einvernehmen kann die spannende Darstellung eines kontroversen Geschehens gelingen. Auch die Dramatik der Handlung kann bereits in der Rahmenerzählung erahnt werden, weil die Art der Darstellung vom sachlichen Ich-Bericht über die erlebte Rede hin zur epischen Darstellung tendiert. Alle diese Merkmale verweisen auf die Gattung der Novelle, für die Storm mit seinem Schimmelreiter ein idealtypisches Beispiel gedichtet hat.

Die Welt, in der die Geschichte spielt, wird uns gleich von Anfang an nahe gebracht. Die Namen der „alten Frau Senator Feddersen“ oder von „Pappes Hamburger Lesefrüchten“ (Z. 4 und 5) verweisen auf Norddeutschland. Der Reiter der zweiten Rahmenhandlung hat seine gespenstische Begegnung „auf einem nordfriesischen Deich“ (Z. 13). Neben dem Sturm ,der mit seinem herbstlich-typischen Wüten beschrieben wird, entführt uns Storm auch durch den landschaftlich begrenzten Wortschatz in die Welt des Wattenmeers und der Nordsee. Über „Halligen und Inseln“ (Z.16) ziehen Krähen und Möwen, und gelegentlich blinkt aus einem „Koog“ (Z. 52f.) eine „Wehle“ (Z. 53). Auch in der plattdeutschen Mundart, mit welcher der Knecht „um 't hoge Water“ (Z. 72) spricht, spiegelt sich die Wirklichkeit der einfachen Menschen an der Waterkant. Auch die genaue und detailreiche Beschreibung der langgestreckten friesischen Häuser, vor denen die Reisenden ihre Tiere an sogenannten „Ricks“ (Z. 65) anbinden können, trägt zur Veranschaulichung bei. Der Realismus der Stormschen Erzählkunst verstärkt sich sogar noch bei der Beschreibung des Innern des Wirtshauses, so dass der Leser gleichsam mit auf der Ofenbank Platz nimmt und wie die anderen Dorfbewohner behaglich der Darstellung des Schulmeisters lauscht. In dieser täuschend echten Darstellung zeigt sich die ganze Erzählkunst der poetischen Realismus in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Theodor Storm lebte von 1817 bis 1888 in Norddeutschland und kannte das Meer und die Menschen am Meer aus eigener Anschauung genau. In seiner Meisternovelle Der Schimmelreiter verarbeitete er sowohl persönliche Erlebnisse als auch Sagen und Geschichten seiner friesischen Heimat. Gerade für uns Süddeutsche ist seine Erzählung eine gute Möglichkeit, einen anderen Teil Deutschlands kennenzulernen. Was könnte passender für einen Urlaub am Nordseestrand sein, als die Lektüre seines Schimmelreiters? Aber nicht nur als Privatlektüre ist diese Novelle sehr empfehlenswert, sondern sie ist auch seit Jahrzehnten fester Bestandteil der schulischen Bildung. An ihr werden nicht nur typische Merkmale einer vergangenen Epoche und einer kunstvollen Erzählgattung aufgezeigt, sondern sie ist ein beinahe klassisch zu nennendes sprachliches Kunstwerk, das seinen Schöpfer Theodor Storm als bedeutenden Dichter des poetischen Realismus unsterblich sein lässt.


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